Rubriken: Aufnahmeeinstellungen, Grundlagenwissen

Verwackelungsunschärfe im Kontext von Sensorgröße und Brennweite

2009-03-23 Vielen Fotografen dürfte bereits eine alte Faustformel begegnet sein: Der Kehrwert der Brennweite ist die längste Verschlusszeit, bei der man verwackelungsfrei aus der Hand fotografieren kann. Aber wie kommt diese Verwackelung überhaupt zustande und was hat das mit der Brennweite zu tun? Vor allem im digitalen Zeitalter mit seinen verschiedenen Sensorgrößen und der Möglichkeit, Bilder zu beschneiden und zu vergrößern, ist diese Frage berechtigt.  (Benjamin Kirchheim)

Das Bild als Ganzes betrachtet wirkt scharf [Foto: MediaNord]
Vergrößert man einen Ausschnitt, wirkt das Bild verwackelt [Foto: MediaNord]
In Zeiten des Kleinbildfilms war alles so schön einfach, nur Mittel- und Großformatfotografen mussten sich mit dem genauen Zusammenhang aus Brennweite, Filmgröße und Verwackelungsunschärfe auseinandersetzen. Doch eigentlich spielt die Brennweite als physikalische Eigenschaft des Objektivs bei Verwackelungen nur eine Nebenrolle. Verwackelte Bilder sind den meisten Fotografen bekannt. Dass man eine Kamera in der Hand nicht ruhig halten kann, merkt man spätestens, wenn man mehr Richtung Tele zoomt, denn der Bildausschnitt ist dann kaum auf derselben Stelle zu halten. Nimmt man nun ein Foto mit zu langer Belichtungszeit auf, so verwischt die Aufnahme mehr oder weniger stark.

Dieses Verwackeln erfolgt mit einer gewissen Frequenz und Geschwindigkeit. Dafür kann man den Begriff Winkelgeschwindigkeit heranziehen; das passt wunderbar dazu, dass eine Kamera durch das Objektiv auch einen gewissen Bildwinkel aufnimmt. Um die Zusammenhänge darzustellen, wird es jetzt etwas mathematischer. Ein Mensch wackelt ungefähr mit 2°/s, das entspricht 1/23,5 der Bilddiagonale des Bildwinkels eines Normalobjektivs. Bei einer Sekunde Belichtungszeit auf einem Kleinbildfilm entspricht das einer deutlich verwischten Unschärfe von 1,78 mm. Verringert man die Belichtungszeit auf 1/30 s, schrumpft diese Unschärfe auf 60 Mikrometer (µm), was aber immer noch als unscharf gilt. Erst bei 1/60 s beträgt die Verwischung nur noch 30 µm – das entspricht dem berühmten Unschärfekreis des Kleinbildes. D. h. ab hier wird das Bild vom Betrachter als scharf wahrgenommen. Der Unschärfekreis ist definiert als 1/1.400 der Bilddiagonale. Diese Größe orientiert sich an der Auflösung des menschlichen Auges (siehe Fototipp in den weiterführenden Links). Die Brennweite hat mit dem Unschärfekreis nichts zu tun.

Ein Normalobjektiv mit 50 mm Brennweite hat an Kleinbild einen Bildwinkel von 47°, an dem kleineren APS-C, das bei den meisten Spiegelreflexkameras von Canon, Nikon, Sony, Pentax und Samsung Verwendung findet, hat das 50mm-Objektiv aber einen Bildwinkel von nur noch 31°. Dieselbe Verwackelungsgeschwindigkeit eines Menschen erzeugt also an APS-C eine größere Verwackelungsunschärfe, denn 2°/31° bei APS-C ist größer als 2°/47° bei Kleinbild. Der Unterschied entspricht genau dem Crop-Faktor von 1,5, den APS-C kleiner ist als Kleinbild. Entsprechend muss man die Belichtungszeit von 1/60 s auf 1/90 s verkürzen, um ein scharfes Bild zu erhalten.

Aktuelle Sensorflächen im Größenvergleich [Foto: Wolfgang Heidasch]Dass man bei Kleinbild den Kehrwert der Brennweite als längste sichere Verschlusszeit einstellen kann, ist also nicht mehr als ein glücklicher Umstand, der das Rechnen einfacher macht. Ins digitale Zeitalter kann man diese Faustformel nur retten, indem man mit der kleinbildäquivalenten Brennweite rechnet, also den Crop-Faktor bei DSLRs berücksichtigt. Das gilt natürlich auch für Kompaktkameras mit ihren Mini-Sensoren, wobei hier meist kein Crop-Faktor angegeben ist, sondern nur eine kleinbildäquivalente Brennweite oder sogar nur der Zoomfaktor. In der Regel stellen die Kameras aber automatisch möglichst verwackelungsfreie Verschlusszeiten ein, sofern das Licht ausreicht. Ist dieses zu wenig, helfen nur noch ein Stativ oder in begrenztem Maße ein Bildstabilisator (am besten ein optischer im Objektiv oder mechanischer mit beweglichem Sensor in der Kamera).

Noch ein anderer wichtiger Punkt ist zu beachten, nämlich wenn man hinterher Bildausschnitte macht. Da man dabei die Bilddiagonale verringert und das Bild vergrößert, werden vorher nicht sichtbare Verwackelungsunschärfen dann wieder sichtbar. Wenn man das vor hat, sollte man also vorher für eine kürzere Verschlusszeit sorgen oder das Bild anderweitig stabilisieren.

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Benjamin Kirchheim

Benjamin Kirchheim, 46, schloss 2007 sein Informatikstudium an der Uni Hamburg mit dem Baccalaureus Scientiae ab. Seit 1998 war er journalistisch für verschiedene Atari-Computermagazine tätig und beschäftigt sich seit 2000 mit der Digitalfotografie. Ab 2004 schrieb er zunächst als freier Autor und Tester für digitalkamera.de, bevor er 2007 als fest angestellter Redakteur in die Lübecker Redaktion kam. Seine Schwerpunkte sind die Kameratests, News zu Kameras und Fototipps.