Realviz

Testbericht: Realviz VTour 1.1: Vom Panoramafoto zur 3D-Welt

2007-03-20 "Innovative Werkzeuge für innovative Ideen", lautet das Motto der französischen Softwarefirma Realviz, und in Programmen wie VTour findet man diese Leitlinie konsequent verwirklicht. Wurde bislang das "begehbare" Bild, ein sphärisches oder kubisches 360°-Panorama, bereits als Schritt über die Zweidimensionalität hinaus angesehen, da der Betrachter sich in das Panoramabild hineingestellt fühlt, erreicht man mit VTour einen noch überzeugenderen räumlichen, dreidimensionalen Eindruck, weil man in einer perspektivisch korrekt eingerichteten 3D-Szene umherwandern kann. Auch Einzelbilder können so aufbereitet werden, dass z. B. ein räumlich-plastischer Eindruck eines Innenraums und eine geradezu "haptische" Illusion entsteht.  (Dr. Bernd Schäbler)

Weltkoordinaten und Hilfsachsen  [Foto: Dr.Bernd Schäbler]Bis es so weit ist, bedarf es einiger Vorarbeiten, und es ist nicht verkehrt, sich zur Vorbereitung mit den Grundbegriffen der Erstellung von 3D-Szenen und -Objekten vertraut zu machen, zumindest die Help-Dateien von VTour eingehend zu studieren. In VTour beginnt der Prozess der Modellierung damit, dass von der unterhalb der Menüleiste angebrachten Werkzeugleiste aus – deren Karteireiter dem Workflow entsprechend  aneinandergereiht sind – ein Einzelbild oder ein 360°-Panorama ins Arbeitsfenster geladen wird. Erwähnt sei hier auch, dass es in letzterem Fall unbedingt ein Vollpanorama sein muss und dass man mit VTour nur jeweils ein Panorama bearbeiten und eine Szene aus einem solchen Bild erstellen kann.

 Die erste Maßnahme besteht in der Einrichtung eines Weltkoordinatensystems, bestehend aus X-, Y- und Z-Achse, die im rechten Winkel in einem Punkt aufeinander treffen, sowie weiteren Hilfsachsen. Dieser Schritt ist sehr sorgfältig auszuführen, da alle übrigen Grundkörper bzw. Polygone, die eingefügt werden, und Modellierung mit Grundobjekt und eingeblendeten Hilfslinien  [Foto: Dr.Bernd Schäbler]auch die imaginären perspektivischen (Hilfs-)Linienführungen von einer genauen Platzierung des Achsensystems abhängen. Die Länge der X-Achse sowie die Werte für Brennweite (aus EXIF-Daten) und Objektiv-Verzerrung können manuell so lange korrigiert werden, bis im Fenster "Kalibriergenauigkeit" ein Wert zwischen 95 % und 100 % angezeigt wird. Bevor man Korrekturen an den Achsen vornimmt, was natürlich möglich ist, sollte man unbedingt die Kalibriergenauigkeit verbessern, weil damit oft schon das Problem "schiefer" Achsen behoben ist.

Im nächsten Arbeitsschritt "Modellieren" sehen wir dann die Ergebnisse eines richtig gesetzten Koordinatensystems: Wenn mit den Grundformen (grafische Primitives) Fläche, Kugel, Würfel, Zylinder oder Scheibe die im Bild angedeuteten Formen nachkonstruiert werden, sollten die Begrenzungslinien der Primitives mit den im Bild vorhandenen Linien fluchten. Beim Modelliervorgang  sichtbar werdende Hilfslinien und Schnittpunktmarkierungen erleichtern die Zuordnung der Gitterstrukturen; mit dem "Snap"-Werkzeug können Objekte leicht mit der Maus gezogen und an anderen angedockt werden. Andocken kann man z. B. an einem Scheitelpunkt, einer Oberfläche oder der Kante eines grafischen Grundobjekts.

Nun ist in der empirischen bzw. abgebildeten Wirklichkeit nicht alles streng geometrisch oder rechtwinklig angeordnet, und von daher müssen die Grundobjekte angepasst werden, indem man sie an den Schnitt- oder Scheitelpunkten, an den Kanten oder Flächen verändert (verschiebt, dreht, verkleinert/vergrößert, Kanten abschrägt, Teile extrudiert etc.). Auf diese Weise können Verschieben eines Objekts  [Foto: Dr.Bernd Schäbler]Grundobjekte flexibel den im Bild sichtbaren Gegebenheiten angeglichen werden, und darüber hinaus können durch geschickte Manipulationen der Grundformen mithilfe der erwähnten Operationen ganz individuelle Formen geschaffen werden, die für eine "realistische" Modellierung nötig sind. Zudem ist es natürlich möglich, grafische Primitives miteinander zu kombinieren und ihre Oberflächen mithilfe des "Merge"-Befehls zu verschmelzen. Ein Problem stellen freilich Bildelemente wie etwa Büsche oder Baumkronen dar, die nur sehr unvollkommen nachmodelliert werden können; schon bei der Wahl des Aufnahmeortes bzw. Bildes sollte man daher darauf achten, unfreiwillig komische Effekte zu vermeiden, die u. U. zwangsläufig durch die 3D-Nachbearbeitung entstehen müssen.

Nimmt die Zahl der verwendeten Objekte zu, kann man zwecks besserer Übersichtlichkeit auf andere Ansichtsmodi wie Gitterstruktur oder Körperoberfläche umschalten. Zudem wird in einer Spalte links vom Arbeitsfenster, im so genannten "Scene Browser", jede eingesetzte Form und später jede einem Formelement zugehörige bzw. zugewiesene Textur akribisch protokolliert, so dass man auch von hier aus einzelne Elemente ansteuern, auswählen, löschen oder editieren kann. Leider scheint der "Duplicate"-Befehl, mit dem man bereits erstellte Formen bequem weiterverwenden könnte, nicht richtig zu funktionieren.

Erstellung einer Animation  [Foto: Dr.Bernd Schäbler]Hat man allen im Bild vorkommenden Objekten geometrische Formen zugewiesen, können anschließend die Körperoberflächen mit Texturen versehen werden, die aus dem zugrunde liegenden Bild extrahiert werden. Es ist möglich, einzelne Objekte, eine bestimmte Oberfläche oder auch alle durch Drücken der Shift-Taste und Mausklick markierten Gitterstrukturen mit Texturstücken perspektivisch korrekt zu "verkleiden". Alternativ können mit einem externen Bildeditor bearbeitete Texturteile, importierte Texturstücke, bereits verwendete, extrahierte Bildteile oder mit dem Befehl "Select Materials" einer beliebigen Stelle der Vorlage entnommene Bildsegmente anderswo einkopiert werden. Einen Notbehelf stellt die Möglichkeit dar, Bildteile einfach monochrom einzufärben ("Assign Color").

Wurde, wie in den beigefügten Beispielbildern ersichtlich, eine Outdoor-Szene modelliert, kann man diese in eine Kugel verschieben, deren Oberfläche man über den "Invert"-Befehl umkehrt und mit einer passenden Textur für den Himmel versieht. Damit ist die Modellierung und Texturierung abgeschlossen, und im nächsten Arbeitsschritt "Animation" (wieder über Karteireiter anwählbar) können kleine Filme im Quicktime- oder Avi-Format hergestellt werden. Auf einer Timeline, die im Arbeitsfenster erscheint, werden die Stationen der Kamerafahrt durch die modellierte Szene als so genannte Keyframes festgelegt. Diese Schlüssel-Frames kann man nachträglich verändern, ergänzen oder verschieben, wodurch sich eine zeitweilige Verlangsamung oder Beschleunigung der Kamerafahrt ergibt. Abschließend wird der Film in einem der beiden erwähnten Formate gespeichert, wobei die Anzahl der Frames pro Sekunde, die Bildgröße in Pixeln sowie Kompressionsart (Codec) und -grad bestimmt werden können.

Abgeschlossene 3D-Szene  [Foto: Dr.Bernd Schäbler]Wer die fertiggestellte 3D-Szene als "begehbare", interaktive Präsentation speichern bzw. exportieren möchte, dem stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung: 1. Export als interaktive Webseite, in der unter Einbeziehung des Shockwave-Plugins der Spi-V3d Viewer geöffnet wird; 2. Vorführung mit der Standalone-Version des Spi-V3d Viewers durch Öffnen der von VTour erstellten XML-Datei; 3. Export in Formate wie Maya oder auch Collada, das von mehreren 3D-Programmen verwendet wird und u. a. die Einfügung von 3D-Szenen in Google Earth ermöglicht.

Fazit: Manch einer wird sich vielleicht noch erinnern, dass vor etwa acht Jahren 3D-Szenen, auf Fotos basierend und mit "Canoma" aus der legendären Softwareschmiede "Metacreations" erstellt, ungläubiges Staunen und Faszination auslösten. Die Firma gibt es nicht mehr, und auch dieses Programm wurde leider nicht weiterentwickelt. VTour, um vieles flexibler und differenzierter, was die Modellierfunktionen und Ausgabemöglichkeiten angeht, kann nun als die von vielen erwartete Weiterentwicklung im Schnittpunkt von Fotografie und 3D-Modellierung betrachtet werden. Kritiker werden eventuell herummäkeln, dass manches gar sehr an Potemkinsche Fassaden erinnert; aber vergessen wir nicht: Zu jeder durch ein Bild vermittelten Raumillusion  – die Oberfläche einer Buchseite wie auch die eines Bildschirms ist nun einmal zwei- und nicht dreidimensional! – gehört ein Quäntchen bewusst arrangierter Selbsttäuschung.

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