Rubrik: Bildgestaltung

Fotos mit Stil

2001-01-29 Etwa neunzig Prozent aller Fotos sind "Reproduktionen der Realität" – leider. Womit die Reproduktion nicht schlecht geredet werden soll. Aber es gibt eine weite Spanne zu wenig genutzter Möglichkeiten, auch anders – poetischer, dramatischer, hintergründiger, persönlicher – zu fotografieren.  (Jürgen Rautenberg)

Denken Sie an Malerei, Musik und andere kreative Techniken; ein Dürer ist von einem Degas ebenso weit entfernt wie ein Bach von einem Britten. Selbst wenn wir auf die Alten Meister verzichten und die Werke moderner Künstler miteinander vergleichen, hat jeder seine eigene Ausdrucksweise, seinen "Persönlichen Stil". Und in der Fotografie ist es nicht anders – auch, wenn man nicht gleich den Anspruch erhebt, ein Künstler zu sein.

Das erste Bild dokumentiert in bestem Sinne eine nordische Landschaft: Den Weg hinein, Haus und Schuppen, Wiesen und Felder und mit dem blauen Himmel und den weißen Wolken, sogar das Wetter im Moment der Aufnahme. Eine informative Reproduktion; ein "Passfoto" des Motivs also. Der Betrachter erkennt auf Anhieb all das, was der Autor sagen will und weiß: "Aha, so sah sein Urlaubsdomizil aus".

Das zweite Bild führt zunächst ebenso deutlich das Motiv vor Augen: Ein Stück gammeliger Steg über ein Wasser, ein ebenso gammeliger Fender. Nichts Weltbewegendes. Eher etwas, über das man hinwegsieht. Doch der zweite Blick eröffnet mehr: Gegenstände innerhalb und außerhalb des Bildes spiegeln ihre Farben auf die Wasseroberfläche, spielerisch verwandelt durch deren Bewegung. Damit bekommt das Bild eine neue Dimension: Es beschränkt sich nicht auf die Dokumentation des Motivs, sondern erzählt eine eigene, poetische Geschichte, die sich von der rein sachlichen Botschaft des ersten Bildes unterscheidet. Die Spiegelung löst die Motivformen auf, neue Formen und mit ihnen neue, unvermutete Farben spielen miteinander ein spannendes, dem Auge wohltuendes, den Geist anregendes Spiel. Sichtbar wird die Schönheit einer eigentlich ganz profanen Situation. Vom Stil her könnte man es eine "Impression" nennen.

Ein Maler hat den Vorteil, dass er ein Bild unabhängig von jedem realen Motiv, ausschließlich aufgrund seiner Vorstellung malen kann. Der Fotograf hingegen hat immer ein Motiv, dass von der Kamera festgehalten wird. Dennoch kann er aus dem konkreten Motiv das machen, was man in der Kunst eine "Abstraktion" nennt. Das dritte Bild hat als konkretes Motiv rote und grüne Formen – welche das sind, spielt überhaupt keine Rolle mehr – vor einem blauen Hintergrund. Die Abstraktion wurde dadurch erreicht, dass der Fotograf das Motiv durch eine geschliffene Kristallfläche hindurch aufnahm. Damit brach er die vorgegebenen Formen auf; es entstand eine neue Form-, Farb- und Linienkomposition: Ein abstraktes Gebilde, an dem das Auge sich erfreuen kann – oder nicht. Denn es erfordert nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Fähigkeit, ein Miteinander von Formen und Farben ohne Verbindung zu konkreten Dingen zu genießen.

Soweit drei von unendlich vielen Möglichkeiten, Fotos individuell zu gestalten. Allerdings: Unsere Sinne müssen für die Schönheit solcher Bilder empfänglich sein. Das ist nicht immer einfach. Familie, Arbeits- und Freundeskreis fordern oft gängigen Trends entsprechend zu funktionieren und erfolgreich zu sein. Das erzeugt Stress. Der aber ist der Totfeind aller Kreativität. So betrachtet, kann Fotografie zur Therapie werden, die Ihnen ein Stück Lebensqualität zurückgibt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Reproduktion – welchen Motivs auch immer – ist keinesfalls nur etwas für fotografische Anfänger und damit minderwertig. Und ein abstraktes Bild ist nicht immer das Höchste aller Gefühle. Entscheidend ist, ob man eine Sache gut oder schlecht macht. Vielleicht aber regt dieser Tipp Sie an, einfach einmal mit anderen Vorzeichen an die Fotografie heranzugehen. Entwickeln Sie einen persönlichen Weg zu Ihrem persönlichen Stil!

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