Rubriken: Bildgestaltung, Motive und Situationen
Eine Geschichte erzählen – Die Fotoreportage
2007-06-18 Eine Fotoreportage ist eine zeitlich wie örtlich begrenzte Darstellung nicht fiktiver Ereignisse. Was aber bedeutet es in diesem Fall "Darstellung"? Geht es darum, Ereignisse objektiv, also nur anhand von Fakten darzustellen? Wie wichtig ist die subjektive Meinung des Fotografen? Wie weit darf sich der Fotograf selbst in die Geschichte, die er fotografiert, einbringen? War man früher noch davon überzeugt, eine Fotoreportage solle nichts anderes zeigen als Fakten, praktisch nur eine Dokumentation – also eine strenge bildliche Wiedergabe des Geschehenen – sein, so sind heute viele Reportagefotografen der Meinung, dass die Person, die erzählt bzw. fotografiert, genauso wichtig ist, wie die Geschichte. (Martin Rohrmann)
Reportagefotografen erzählen Geschichten! Sie unterhalten, sie provozieren, sie zeigen ihre ganz persönliche Sicht der Welt. Eine absolute Wahrheit zu zeigen, ist dabei nicht möglich, weil es sie nicht gibt. Die Dinge objektiv wiedergeben zu können, ist ebenso utopisch, da der Fotograf schon anhand der Auswahl der fotografierten Personen, des Ortes und sogar des Bildausschnitts eine subjektive Stellung bezieht.
Wenn es also nicht um die Wahrheitsfindung geht, worum dann? Ein wesentlich wichtigerer Aspekt liegt darin, dem Betrachter der Fotos ein Gefühl, eine Atmosphäre für das Reportagethema zu geben, für die Menschen, die darin eine Rolle spielen, für den Ort der "Handlung". Der Betrachter darf nicht länger nur der Betrachter sein, er muss vielmehr visuell so stark angesprochen werden, dass er das Gefühl bekommt, er sei
dabei
. Fotos mit rein informellem Charakter verpuffen
schnell, und so bleibt das Foto (gerade etwa in vielen Tageszeitungen) nur eine dekorative Bebilderung zum begleitenden Text. Mitgefühl beim Betrachter wecken, den Fokus auf etwas richten, etwas in Frage stellen ... das ist die eigentliche (und "vornehmste") Aufgabe eines guten Reportagefotografen. Dabei sollte aber niemals Abstand von der Wahrhaftigkeit der Fotos genommen werden, indem Bilder verfälscht oder in einen falschen Kontext gesetzt werden. Das erste Gebot der Reportagefotografie lautet daher: Du sollst nicht lügen.
Eine Reportage soll eine Geschichte erzählen. Aber oftmals ist dies eine recht naive Vorstellung – ohne einen Begleittext funktionieren die wenigsten Themen. Sicher, universelle Themen wie Krieg, Armut, Zerstörung, Freude, Hunger oder Familie können intuitiv eingeordnet werden. Ein Foto von einem hungernden Kind, neben dem ein teurer Mercedes parkt, versteht jeder – Ungerechtigkeit. Aber sobald das Thema vielschichtiger und komplizierter wird, braucht es einen Text, oftmals sogar eine Bildunterschrift. Der Autor hat beispielsweise eine Porträtserie über autistische (entwicklungsgestörte) Kinder fotografiert (siehe dazu weiterführende Links). Man sieht den Bildern zwar an, dass etwas mit den Kindern "nicht stimmt", worum es aber genau geht, würde man nicht erfahren, gäbe es nicht einen kurzen Einleitungste
xt zu den Fotos. Woran will man schließlich erkennen, dass die Kinder Autisten sind?
Aber wie fotografiert man nun eine Reportage? Ein einfaches Rezept gibt es natürlich nicht. Am Anfang steht immer die Frage, welches Thema den persönlichen Interessen entspricht. Ein Amateurfotograf, der Fußball-Fan ist, macht vielleicht eine Reportage über den örtlichen Verein, jemand der sich für Autos interessiert, macht eine Reportage über das größte Trabbi-Treffen in Deutschland. Wer seine Bilder verkaufen will an Agenturen oder Zeitschriften, lässt neben seinen persönlichen Interessen auch strategische Faktoren einfließen: Gibt es einen Aufhänger? Ist das Thema gerade im Gespräch? Ist es neuartig, brisant, topexklusiv? Und Fotografen, die Ihr Geld damit verdienen, müssen sich fragen: Kann ich es verkaufen?
Aber auch gerade auf den ersten Blick "banale" Themen können interessant sein, es muss nicht immer die Enthüllungs-/Skandal-/Tragödien-Reportage sein. Hat man ein Thema gefunden, das einen als Fotografen interessiert und welches sowohl finanziell als auch organisatorisch realisierbar ist (die meisten Fotografen werden z. B. kaum eine Erlaubnis bekommen, eine Reportage über das Pentagon oder den Kreml zu machen), beginnt die eigentliche Arbeit. Am Beispiel einer konkreten Reportage des Autors über die Zeugen Jehovas (siehe weiterführenden Link) soll hier das Vorgehen einmal geschildert werden:
-
Recherche, Wissen zum Thema aneignen, Ansprechpartner finden
-
Ansprechpartner kontaktieren, sich vorstellen, Vorhaben schildern und um Unterstützung bitten
-
Genehmigungen einholen (gerade bei Behörden, Organisationen)
-
Thema fotografieren
-
Auswahl der Bilder (Editing) für die Strecke
-
Fotos nachbearbeiten und Präsentation
Die Fotostrecke (aus einer Tierklinik) in diesem Fototipp besteht aus sechs Bildern, sie sprechen für sich, kaum Text ist dafür erforderlich. Natürlich gibt es kein "Schema F". Trotzdem sind die oben genannten Schritte sehr empfehlenswert und logisch verknüpft. Man kann kein Thema fotografieren, bei dem man sich nicht auskennt. Sehr zeitaufwendig sind Themen, bei denen man auf die Kooperation mit Behörden oder Organisationen angewiesen ist; so brauchte der Autor unzählige Telefongespräche, bis er die Genehmigung des Justizministeriums hatte, in einem Gefängnis fotografieren zu dürfen. Oft klappt das auch nicht, und man muss ein Thema verwerfen, weil irgendwelche offiziellen Genehmigungen fehlen oder die Leute partout nicht fotografiert werden wollen. Wenn man dann die Erlaubnis hat, und wenn auch die Personen vor der Kamera sich nicht
sträuben
,
kann man sich glücklich schätzen, denn dann ist schon ein Riesenbrocken Arbeit geschafft, man ist praktisch auf halber Strecke zur Ziellinie der Geschichte.
Während man die Reportage fotografiert, sollte man darauf achten, möglichst viele Aspekte des Themas zu erfassen. Angenommen, es ginge um eine Reportage über den Fußballverein der Stadt, wäre es sehr langweilig, die ganze Zeit nur hinter dem Tor zu stehen und zu fotografieren, wie der Gegner auf dieses Tor zu rennt. Besser sollte man immer das fotografieren, was der normale Zuschauer eben nicht sehen kann. Kurzum: Fotografieren, was hinter den Kulissen passiert (und das gilt bei allen Reportagethemen). Dazu noch ein Beispiel aus der Praxis des Autors: Bei seiner Fotoreportage über den Circus Roncalli waren die Aufnahmeorte hinter der Bühne, im Orchester, in den privaten Bauwagen, bei den Proben, in der Schminke, im Familienleben, Reaktionen beim Publikum, Treffen mit dem Zirkusdirektor. Eben all das, was man sonst nicht zu sehen bekommt. Natürlich heißt das nicht, dass nur exklusive "Insider"-Fotos interessant sind. Eine kurze Strecke des Autors über die Ekstase italienischer Fans nach dem WM-Sieg war alles andere als exklusiv. Er stand inmitten von hunderten Leuten, die alle tobten und schrieen und vor Euphorie außer sich waren. Alles, was er sah und fotografierte, sahen alle anderen auch, und während die meisten Zeitungs- und Hobbyfotografen abseits standen und mit Teleobjektiven fotografierten, stand er mit einem Weitwinkel mitten drin und musste aufpassen, nicht umgestoßen zu werden – ein großartiger Ort um zum fotografieren (und das ist nicht ironisch gemeint).
Nach einem gewissen Zeitraum (das kann Wochen, Monate, sogar mehrere Jahre dauern) hat man schließlich eine zumeist stattliche Anzahl von Fotos, die es im finalen Editing noch einmal zu sichten, zu bewerten und zu sortieren gilt. Schließlich lautet die Frage nun: Welche Fotos nehme ich für meine Reportage? Und wie viele Fotos sollte meine Strecke haben? Nun, letztere Frage zu beantworten, ist leicht. Eine klassische Magazinreportage hat ca. 12 bis 15 Bilder. Umfangreichere, komplexe Themen dürfen ruhig bis zu 20 oder 25 Fotos umfassen. Wir erinnern uns: Es soll eine Geschichte erzählt werden. Man wählt daher Fotos aus, die unterschiedliche Aspekte aufweisen, wiederholt sich nicht in Motiven oder in Thematiken. In der Kürze liegt die Würze. Wo liegt die Essenz? Die Fotos sollten auch stilistisch zusammenpassen (Farbe, Beschnitt, formale Bildsprache). Eine Auswahl zu treffen, ist schwer. Wie zum Fotografieren selbst braucht man auch zum
Auswählen und Selektieren der Fotos Talent, und es gibt sehr gute Fotografen, die unglücklicherweise immer ihre schwächsten Bilder auswählen. Andererseits gibt es aber auch immer wieder Fotografen, die es schaffen, mit eher schwachen Bildern eine (meist nur auf den ersten Blick) spannende Fotostrecke zu schaffen – eigenartig.
Das inzwischen recht abgenutzte Zitat des weltberühmten (Kriegs-)Fotografen Robert Capa ("Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, warst Du nicht nah genug dran") bezieht sich nicht auf die Räumlichkeit, sondern auf die emotionale Verbundenheit des Fotografen mit seinem Thema. Mit der heutigen Technik ist es sehr leicht, ein technisch perfektes Einzelbild zu fotografieren. Aber den Reportagefotografen reizen nicht die Einzelbilder. Vielmehr geht es immer um das "große Ganze". Eine Fotoreportage ist wie ein kurzer Film: Man gleitet über die Fotos, die nebeneinander stehen, und bekommt einen Eindruck von dem Ort, von den Menschen. Bilder, welche die absolute Wahrheit nicht immer zeigen können und müssen, Bilder, die aber der Wahrhaftigkeit verpflichtet sind. Reportagefotografie ist keine Werbe- oder Modefotografie. Reportagefotografie ist die Fotografie des täglichen Lebens, die Fotografie der Welt, die uns umgibt. Und jeder, der eine Geschichte erzählt, hat eine Verantwortung gegenüber seinem Publikum.