Rubriken: Aufnahmeeinstellungen, Bildbearbeitung
Dramatischer Dynamikgewinn durch RAW-Doppelbelichtung
2011-07-18 In vielen Digitalfotos stecken deutlich mehr Bildinformationen, als auf den ersten Blick sichtbar sind. Insbesondere wer im RAW-Format aufzeichnet, kann aus vermeintlich überbelichteten, weißen Flächen oft noch verblüffend viel herausholen. Das Problem dabei: Die korrekt belichteten Bildpartien wollen überzeugend mit den korrigierten gemischt werden. Das lässt sich am besten erreichen, indem man die RAW-Datei in zwei Versionen entwickelt, die dann mit einem Bildbearbeitungsprogramm zu einem perfekt durchgezeichneten Ergebnis kombiniert werden. (Martin Vieten)
Heller Hintergrund und davor ein dunkles Motiv – Gegenlichtaufnahmen gehören auch heute noch zu den echten Herausforderungen für Mensch (Fotograf) und Material (Kamera). In der Natur treten Helligkeitsunterschiede von bis zu 20 Blendenstufen (EV) auf, das menschliche Auge kann ohne Adaption etwa 14 EV erfassen. Die Kameratechnik ist (noch) nicht so weit: Ein Dynamikumfang von 10 EV gilt heute als sehr guter Wert. Die Folge: Bei kontrastreichen Szenen fehlt es in den Tiefen und Lichtern an Zeichnung, die Lichter reißen aus, die Schatten laufen zu. Ein Ausweg aus diesem Dilemma bieten seit kurzer Zeit einige Kameras mit einer HDR-Funktion. Sie nehmen das Motiv mehrfach mit unterschiedlicher Belichtung auf, die Einzelaufnahmen vereinen sie dann zu einem Bild, in denen Tiefen und Lichter perfekt durchgezeichnet sind.
Es liegt allerdings auf der Hand, dass sich HDR-Techniken – sei es in der Kamera oder nachträglich am Bildschirm – nicht für Actionfotos oder spontane Schnappschüsse aus der Hand eignen. Die Einzelaufnahmen sollten möglichst deckungsgleich sein, andernfalls drohen störende Artefakte bis hin zu Geisterbildern. Wer diese Beschränkung umgehen möchte, sollte kontrastreiche Motive im RAW-Format aufzeichnen. Eine RAW-Datei erweitert den nutzbaren Dynamikumfang um etwa 2 EV, allerdings nicht linear. Das heißt, um zusätzliche Höhendynamik zu erhalten (also ausgefressene Lichter zu rekonstruieren), müsste sehr gezielt in die Gradationskurve eingegriffen werden. Nicht jeder Bildbearbeiter bringt die dafür nötige Erfahrung mit und nicht jeder RAW-Konverter erlaubt die gezielte Manipulation der Gradationskurve.
Deutlich einfacher zu handhaben, ist dieses Verfahren: Man entwickelt zwei Varianten aus der RAW-Datei. Bei einer werden Mitteltöne und Tiefen perfekt eingestellt, bei der anderen die Lichter rekonstruiert. Jetzt bedarf es nur noch eines Bildbearbeitungsprogramm, mit dem sich die beiden Varianten mischen lassen. Das Programm sollte also die beiden Entwicklungsvarianten in Ebenen stapeln können. Legt man das Bild mit den ausgefressenen Lichtern auf die obere Ebene, werden die weißen Bildbereiche ausgewählt und dann gelöscht oder per Ebenenmaske ausgeblendet. Das geht bereits mit kostenlosen Programmen wie Paint.NET oder Gimp.
Besonders flexibel und komfortabel ist die RAW-Doppelbelichtung mit Photoshop ab Version CS3. Hier lassen sich die Entwicklungsvarianten als Smart-Objekte übereinanderlegen. Vorteil des Verfahrens: Beide Varianten können jederzeit erneut im Camera Raw (der RAW-Konverter von Photoshop) geöffnet und angepasst werden. Nachdem die Aufnahme im RAW-Konverter geöffnet wurde, sollte zunächst geprüft werden, ob die Lichter noch genügend Zeichnung enthalten. Als Faustregel kann dabei angenommen werden: Muss die Belichtung in Camera Raw um mehr als -2 EV abgesenkt werden, um überhaupt noch Helligkeitsunterschiede in den Lichtern sichtbar zu machen, besteht die Gefahr von groben Tonwertabrissen – es lässt sich nicht mehr genügend Durchzeichnung rekonstruieren. Treten hingegen in den vormals rein-weißen Bildbereichen schön durchgezeichnete Strukturen zutage (etwa Wolken), ist die Aufnahme brauchbar. Sie kann also mit dem Befehl „Objekt öffnen“ (erscheint bei gedrückter Shift-Taste) als Smart-Objekt an Photoshop übergeben werden.
In Photoshop erzeugt man dann ein neues Smart-Objekt mit der Befehlsfolge „Ebene, Smart-Objekt, Neues Smart-Objekt durch Kopie“. Das Duplikat legt Photoshop oben im Ebenenstapel ab, mit einem Doppelklick auf dessen Miniatur wird es in Camera Raw geöffnet. Jetzt wird dieses Variante der Aufnahme korrekt auf die Tiefen und Mitteltöne belichtet. Dabei kann es durchaus von Vorteil sein, die hellere Bildvariante leicht überzubelichten. Wichtig ist, dass die später auszublendenden Bildbereiche möglichst reinweiß eingestellt werden. Ist das erledigt, geht es mit OK zurück zu Photoshop. Hier liegt nun die zweite, deutlich hellere Bildvariante oben im Ebenenstapel. Es müssen jetzt also nur noch die (hellen) Bildbereiche ausgewählt und dann ausgeblendet werden, so dass sie durch die dunklere Version ersetzt werden. Oftmals gelingt die Auswahl schon mit dem Zauberstab (geringe Toleranz einstellen). Wenn nicht, hilft eine Luminanzmaske weiter. Dazu klickt man in der Kanäle-Palette bei gedrückter Strg-Taste auf den Kanal, der den höchsten Kontrast zeigt. Zurück in der Ebene-Palette, wandelt man die Auswahl in eine Ebenenmaske um (das entsprechende Symbol findet sich am Fuße der Ebenen-Palette), und ist im Prinzip damit fertig.
Wenn das Ergebnis noch nicht überzeugt, gibt es vielfältige Optimierungsmöglichkeiten. Beide Bildvarianten lassen sich durch einen Doppelklick auf ihre Ebene-Miniatur jederzeit wieder in Camera Raw öffnen und neu justieren. Dabei kann es die Bildwirkung oftmals deutlich steigern, wenn auch Kontrast, Weißabgleich, Schärfe etc. für beide Varianten unterschiedlich eingestellt werden. Zudem lässt sich die Gesamthelligkeit über den Deckkraftregler in der Ebenen-Palette absenken. In Photoshop CS5 kann zudem die Helligkeit der abgedunkelten Bildbereiche bequem erhöht werden, indem die Dichte der Ebenenmaske reduziert wird.