Rubrik: Aufnahmeeinstellungen

Bokeh – das schöne, scheue Geschöpf der Unschärfe

2009-08-17 Der Marchesi ("Handbuch der Fotografie") kennt es nicht, der Walter ("MediaFotografie – analog & digital") ignoriert es, kaum ein aktuelles fotografisches Lehrbuch befasst sich damit. Einzig die freie Enzyklopädie "Wikipedia" hat der Sache ein fundiertes eigenes Kapitel gewidmet (siehe weiterführenden Link), das der Autor für diesen Fototipp mit herangezogen hat. Das Phänomen ist derzeit en vogue. Die Rede ist vom “Bokeh”, einem aus dem Japanischen zunächst ins Englische und dann in die internationale Fachsprache übernommenen Begriff. Er bezeichnet – physikalisch-optisch kaum definierbar – die besondere Ausbildung der Unschärfekreise vor und insbesondere hinter der eigentlichen Schärfenebene – es ist hier angebracht und richtig, von der Gestaltung der Tiefenunschärfe zu sprechen. Bei der Fotografie bestimmter Motive wird der Hintergrund gerne bewusst unscharf gehalten, um die Ablenkung des Betrachters vom Hauptmotiv zu mindern. Die ästhetische Qualität dieser unscharfen Gebiete in einer fotografischen Abbildung wird gerne mit subjektiven Begriffen gekennzeichnet, das Bokeh kann demnach angenehm sein, auch wird es als gut, schön, gefällig, eindrucksvoll, neblig oder harsch bezeichnet. Es ist durch den Fotografen selbst so gut wie nicht beeinflussbar. Dennoch gibt es Kenner, die bei der Objektivauswahl gezielt solche Konstruktionen bevorzugen, die das begehrte Unschärfeverhalten zu optimieren vermögen.  (Jan-Gert Hagemeyer)

Schärfentiefe und Zerstreuungskreise, Basis für Bokeh-Bildung [Foto: MediaNord] Der Ausgangspunkt für die Bokeh-Bildung lässt sich optisch, wie in der Grafik dargestellt, ziemlich genau beschreiben. Der Punkt B befindet sich exakt in der Schärfenebene und wird auf der Bild-/Filmebene wiederum als Punkt (B') abgebildet. Objektive bilden stets nur eine Ebene des Raumes scharf ab. Vor und hinter der durch die eingestellte Entfernung definierten Schärfenebene befindet sich der Bereich der Schärfentiefe, den das Objektiv – abhängig von der eingestellten Blende und dem Abbildungsmaßstab – noch ausreichend scharf, mit zulässigem Zerstreuungskreis, abbildet (Punkte C–C'). Diese Schärfentiefe erstreckt sich bis zum Abbildungsmaßstab 1:1 etwa zu einem Drittel vor und zu zwei Dritteln hinter der Schärfenebene (bei noch größeren Abbildungsmaßstäben verteilt sich die Schärfentiefe etwa hälftig vor und hinter der Schärfenebene). Der Punkt C wird daher als noch zulässiger Zerstreuungskreis (C') akzeptiert. Der Punkt A hingegen befindet sich außerhalb der Schärfentiefe und wird folglich als unscharfer Punkt (A'), als ein Zerstreuungskreis, abgebildet. Um eben diese Tiefenunschärfe geht es bei der ästhetischen Beurteilung des Bokeh.

Die drei schematisch dargestellten Zerstreuungskreise zeigen unscharf abgebildete Lichtpunkte (Punkt A' in der Grafik) mit unterschiedlicher Charakteristik: mit "mangelhaftem" Bokeh (rechts), mit "angenehmem" Bokeh (links) und mit "gutem" Bokeh (Mitte). Viele Fotografen mit einiger Erfahrung wählen Objektive mit gutem Bokeh, ohne sich darüber klar zu sein, warum sie einem bestimmten Objektiv den Vorzug gegenüber einem von den fotografischen Eckwerten her ansonsten Gleichwertigen geben – es macht einfach die schöneren Bilder. Auch die Objektivdesigner sind hauptsächlich auf die bestmögliche Bildqualität in der Bild-/Filmebene konzentriert. Die Eigenschaften, welche ein Objektiv dazu veranlassen, ein angenehmes Bokeh zu produzieren, konnten bisher nicht eindeutig festgelegt werden.

Zerstreuungskreis mit angenehmem Bokeh [Foto:MediaNord] Zerstreuungskreis mit gutem Bokeh [Foto:MediaNord] Zerstreuungskreis mit mangelhaftem Bokeh [Foto:MediaNord]

So ist die Anzahl oder Form der Blendenlamellen für sich allein ein sehr unsicheres Indiz auf ein als natürlich empfundenes "nebliges" statt "harsches" Bokeh. Einige Hersteller (wie z. B. Minolta oder Zeiss) sind dazu übergegangen, die Irisblenden der Objektive mit mindestens sieben, oft auch neun oder zehn Lamellen auszustatten und diesen eine spezielle Kontur zu geben, so dass die Pupille der Kreisform bei allen Blendeneinstellungen möglichst nahe kommt. Dies ist jedoch nicht der einzige Einflussfaktor in Bezug auf das Bokeh. Allgemein neigen Zoomobjektive eher dazu, ein schlechtes Bokeh zu erzeugen, ebenso kurz gebaute Teleobjektive gegenüber klassischen Fernobjektiven, deren Baulänge in etwa der Brennweite entsprach (Sonnare von Zeiss etwa).

Typisches Bokeh eines Spiegelobjektivs (Walimex 800 mm F8) [Foto: MediaNord] Manche Hersteller verfolgten bis vor einigen Jahren unterschiedliche Optimierungsziele beim Objektivdesign, was durchaus auch Auswirkungen auf das Bokeh hatte. Insbesondere Nikon-Objektive wurden auf extreme Schärfe optimiert, was einem ausgewogenen Bokeh meist abträglich ist. Traditionell wird z. B. vielen Nikon- und Canon-Objektiven ein eher unruhiges Bokeh nachgesagt. Minoltas Designphilosophie lag in bestmöglicher Ausgewogenheit von Farbe und Kontrast über das gesamte Objektivprogramm hinweg. Bei Leica (später auch bei Minolta) lag der Fokus auf einer optimalen Balance zwischen Mikrokontrast und allgemeinem Kontrast (d. h. höchste Werte für die "Modulation Transfer Function", kurz MTF-Werte für 60 lp/mm und "nur" gute für den wichtigen Bereich von 10–30 lp/mm), was der Abbildung durch die Wiedergabe feinster Oberflächenstrukturen bei ansonsten eher weicher Darstellung eine gewisse Dreidimensionalität verleiht und zu so genannten "liquid colors" führt – und eben häufig auch zu einem sehr angenehmen Bokeh, für das viele Leica- und Minolta-Objektive berühmt waren bzw. sind. Zeiss-Objektive wurden – z. T. auf Kosten von Kontrast und neutraler Farbwiedergabe – auf einen möglichst gleichmäßig hohen MTF-Wert bis zum Rand und einen bestimmten von Brennweite und Einsatzzweck abhängigen “Knickpunkt” an Linienpaaren/Millimeter (lp/mm) hin optimiert.

Ein angenehmes Bokeh ist besonders wichtig für lichtstarke Objektive, da sie bei der größten Blendenöffnung eine besonders geringe Schärfentiefe aufweisen. Bokeh ist auch wichtig für Porträtobjektive (mittlere Teleobjektive), da der Fotograf häufig bewusst eine geringe Schärfentiefe anstrebt, um den Bildhintergrund in Unschärfe verschwimmen zu lassen und das portraitierte Motiv hervorzuheben.

Stockente mit gutem Bokeh im Vorder- und Hintergrund [Foto: Michael Gradias] Einige Objektive werden speziell so konstruiert, dass sie besonders ansprechende Unschärfezonen erzeugen. Das Minolta/Sony STF 2,8/135 mm Porträtobjektiv verwendet (als einziges Objektiv seiner Art) einen Apodisationsfilter in der Nähe einer zweiten kreisrunden Blende, um eine ideale Gaußsche Helligkeitsverteilung innerhalb der kreisrunden Zerstreuungskreise zu erzeugen, was ein gutes Bokeh sowohl vor als auch hinter der Schärfeebene und gleichzeitig einen besonders harmonischen Übergang zwischen dem Bereich der Schärfe und dem der Unschärfe verursacht, einen mit dem von herkömmlichen Objektiven nicht vergleichbaren Verlauf der Schärfentiefe bewirkt und dem Objektiv den Namen "Smooth Trans Focus" (STF) einbrachte. Der Effekt ist über die Blende stufenlos einstellbar. Der Nachteil des STF-Objektivs ist der hohe Lichtverlust durch den Apodisationsfilter von bis zu 1,5 Blenden.

Von Nikon gibt es zwei spezielle Defocus-Control-Portraitobjektive Nikon DC 2,0/105 mm und DC 2,0/135 mm mit variabel einstellbarer sphärischer Über- bzw. Unterkorrektion. Auf diese Weise lässt sich wahlweise der Hintergrund oder der Vordergrund in Bezug auf das Bokeh optimieren (aber nicht beides gleichzeitig), wobei das Bokeh am jeweils anderen Ende darunter leidet. Ebenfalls ein sehr spezielles (nicht notwendigerweise "gutes") Bokeh erzeugen Weichzeichner-Objektive mit Siebblenden wie die historische Rodenstock Imagon- (Tiefenbildner) Objektivbaureihe (und ähnliche Konstruktionen von Fujifilm und Sigma) oder das Seiboldsche Dreamagon mit Spaltsegmentblende.

Ein besonders auffälliges Bokeh produzieren Spiegellinsenobjektive (siehe Bild). Aufgrund des Fangspiegels an der Vorderseite werden unscharfe Punkte nicht als Scheibchen, sondern als Ring abgebildet. Mit diesem Objektivtyp werden deshalb Vorder- und Hintergrund unangenehm unruhig wiedergegeben; lange schmale Objekte erscheinen dadurch häufig mit einer Doppelkontur. Sofern man diese Ringstrukturen nicht vorteilhaft bildgebend in die Gestaltung einbeziehen kann, verwendet man Spiegellinsenobjektive deshalb auch überwiegend für Aufnahmen weit entfernter Motive (ohne sichtbaren Vordergrund) oder mit möglichst gleichmäßigem Hintergrund (z. B. für Makroaufnahmen).

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