Rubrik: Motive und Situationen

Fotografie mit Psychologie – Wie man fremde Menschen fotografiert

2007-11-19 Ob im Urlaub oder daheim in der eigenen Stadt; fremde Menschen zu fotografieren reizt die meisten Fotografen. Neben der rechtlichen Situation (Stichwort Persönlichkeitsrechte) – eine Frage, die in diesem Fototipp nicht behandelt werden soll – kommen schnell andere Bedenken: Man könne doch keine fremden Leute fotografieren ... so was tut man nicht, es sei unhöflich und verspricht womöglich sogar Ärger, man würde sich blamieren und überhaupt ... warum sollte man das tun? Hier ein paar Hinweise und Anleitungen zur gekonnten "People"-Fotografie.  (Martin Rohrmann)

People Fotografie [Foto: Martin Rohrmann]
Obwohl in diesem Bild keine
Kommunikation mit den Personen
statt findet, das Bild aus der
Distanz fotografiert wurde, ist es ein
gelungenes Bild, weil es die
Dynamik der Kinder und die
Idylle der Szenerie gut einfängt
Meist ist die Angst des Fotografen, sich zu überwinden, so groß, dass er sich nicht getraut, auf Fremde zuzugehen und sie dann stattdessen – aus sicherer Entfernung von der anderen Straßenseite – mit einem Teleobjektiv regelrecht "abschießt". Solche Fotos, die mit einem Teleobjektiv gemacht wurden, erkennt man sofort. Sie sind langweilig, distanziert, haben keinerlei emotionale Nähe zur fotografierten Person – schlimmer noch –, sie haben etwas Voyeurhaftes. Kurzum: Es sind in der Regel schlechte und belanglose Fotos ohne Nähe. Denn darum geht es, wenn man andere Menschen fotografiert: Es geht um Nähe und Intimität!

Der Betrachter soll einen Eindruck von der fotografierten Person bekommen. Selbst wenn der Betrachter nichts über die Person erfährt, nicht weiß, wie die Person heißt, welchen Beruf die Person hat, ob sie arm oder reich ist, woher sie kommt ... – es ist wichtig, dass der Betrachter erfährt, wie der Charakter des Menschen wohl ist, die Seele. Das klingt jetzt natürlich etwas vage, um nicht zu sagen abgehoben, dennoch geht es in Wirklichkeit um nichts anderes als darum, die Seele einzufangen.

Menschen aus fernen Kulturkreisen, Bewohner von Gegenden, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben, vertreten oft den Aberglauben, dass die Kamera ihre Seele stehlen würde. Das ist für westliche Kulturen unverständlich, und Fotografen wissen es besser. Dennoch erklärt dieser Aberglaube vielleicht plastisch, was ein gutes Foto ausmacht. Tatsächlich wird bei einem guten Foto die Seele eingefangen, wenn auch nicht geraubt. Und dazu ist es unerlässlich, Nähe zu der fotografierten Person aufzubauen.

Man sollte sich wirklich überlegen, ob man überhaupt ein Teleobjektiv mitnimmt, wenn man aufbricht, um andere Menschen zu fotografieren. Wäre ein Weitwinkel, ein 28er oder 35mm-Objektiv nicht wesentlich besser geeignet? Jetzt werden einige Fotografen sagen: 28 mm verzeichnet! Stimmt womöglich auch, aber das ist vollkommen egal. Darum geht es nicht. Mit einer 28mm-Brennweite sind sie gezwungen, auf fremde Leute zuzugehen. Die Leute werden den Fotografen – je nachdem, wie geschickt er sich anstellt – bemerken, wenn sie von ihm fotografiert werden. Besonders dann, wenn er keine Übung darin hat, "unsichtbar" zu werden.

People Fotografie [Foto: Martin Rohrmann]
Lebendige Straßenszene.
Nicht perfekt umgesetzt, aber lebhaft
und nah am Geschehen
Dann ist es so weit: Man geht mit seiner 28mm-Brennweite los, beispielsweise auf eine belebte Straße, auf der viel los ist. Was dann passiert, ist sehr wichtig: Der Fotograf kann sich jetzt nicht mehr verstecken! Unsichtbar machen ja, verstecken nein. Wenn man die Person, die man fotografieren will, (beispielsweise eine Marktfrau, die gerade Tomaten wäscht) einen bemerkt, geschieht meist folgendes: a) die Person stört sich nicht daran, setzt ihre Handlungen fort, und man kann das Foto machen, b) die Person dreht sich weg oder macht dem Fotografen Gesten, er solle verschwinden, oder c) die Person kommt auf den Fotografen zu und will wissen, was er da macht und verwickelt ihn in ein Gespräch, im ungünstigsten Fall ist die Person verärgert.

People Fotografie [Foto: Martin Rohrmann]
Schnappschuss aus der Vogelperspektive
von einer Brücke.
Situation a ist natürlich am besten. Wenn Situation b eintrifft, sollte man die Wünsche der Person respektieren und weitergehen, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt (wenn überhaupt möglich) zurückkehren und es erneut versuchen. Man kann natürlich auch auf die Person zugehen und fragen, ob man nicht doch ein Foto machen könnte. Selbst wenn das Erfolg hat, ist das Ergebnis meist unbefriedigend, weil man dem Foto ansieht, dass es nur widerwillig entstanden ist. Situation c hingegen ist von sich aus vorteilhaft – die Person zeigt zumindest Interesse. Nun ist es am Fotografen, diplomatisch zu erklären, wer er ist und was er beabsichtigt. In der Regel kann man dann sein Foto machen. Manchmal jedoch kommt es bei Situation c zu einem unerfreulichen Ausgang, die Person hat kein Verständnis für das Hobby (oder den Job) Fotografie, schlimmer noch, die Person wird unfreundlich. Dann sollte man einfach gehen. Bloß nicht groß diskutieren und Aufsehen erregen, denn sonst wird die ganze Umgebung auf die Sache aufmerksam, und man hat es anschließend umso schwerer, weiter zu fotografieren, da man ja jetzt bekannt ist "wie ein bunter Hund".

Ideal ist es natürlich, man wird nicht bemerkt und kann seine Fotos machen. Sobald einen die Leute aber bemerken, ist ihr Verhalten überlegt und geplant, und sie fangen an zu posen. Im schlimmsten Fall stellen sich die Leute steif hin, lassen die Arme hängen und setzen ihr Sonntagslächeln auf, warten, damit man sein Foto machen kann. In so einem Fall

People Fotografie [Foto: Martin Rohrmann]
Trotz Blickkontakt wirkt dieses Bild eher
distanziert. Man merkt, dass der Fotograf
keine wirkliche Verbindung zur fotografierten
Person hat.
macht man eben dieses Foto – aber macht anschließend noch Weitere, wenn sich die Person wieder abgewandt bzw. wieder ihre ursprüngliche Tätigkeit aufgenommen hat. Man hat sich dann an einander gewöhnt und beachtet den Fotografen nicht mehr besonders. Überhaupt sollte man sich nicht allzu viel Wichtigkeit beimessen. Nur weil man auf einer Straße/in einem Café/auf einem Basar fotografiert, bleibt die Welt drum herum nicht stehen und ist man nicht Mittelpunkt des Geschehens. Gerade durch diese Einbildung entsteht die Angst, Fremde zu fotografieren. Ob man im Urlaub fotografiert, in den Straßen einer Großstadt, auf dem Flohmarkt des Dorfes, eine Regel gilt immer: nicht auffallen. Dezente Kleidung tragen, schon durch seine Kleidung signalisieren, dass man die Leute, die man fotografieren möchte, respektiert. Wer würde sich selbst gerne von jemandem fotografieren lassen, der nach Schweiß riecht oder dessen Kleidung dreckig oder anzüglich ist? Wohlgemerkt: unsichtbar ja, Verstecken nein. Das ist ein großer Unterschied. Verstecken hat etwas mit Unsicherheit und Schüchternheit zu tun.

Anfangs ist es wirklich schwer, sich zu überwinden und auf andere Leute zuzugehen. Und wenn die ersten Versuche nicht funktioniert haben und die Leute sich nicht fotografieren ließen, sollte man sich nicht wieder frustriert mit dem Tele auf der anderen Straßenseite verstecken. Denn wie in anderen Bereichen heißt es auch hier: Übung macht den Meister. Wer beispielsweise Landschaften fotografiert, wird bei seinen ersten Fotos auch festgestellt haben, dass das Licht nicht gut war und somit das Gras ausgeblichen wirkt. Oder dass die erste Makroaufnahme verwackelt war und ein Blatt den Käfer verdeckte. Fremde Menschen zu fotografieren ist sicherlich nicht jedermanns Sache, und es bedarf auch einer gewissen Persönlichkeit, sich zu überwinden. Extrem kontaktscheue, introvertierte Menschen werden dabei vielleicht nicht glücklich; und wenn man selbst nach einiger Zeit merkt, dass dieses Genre mehr Stress als Freude bereitet, sollte man etwas anderes fotografieren.

Fotobücher wollen dem Fotografen oft einreden, dass es einfach sei, andere Menschen zu fotografieren, nach dem Motto "Jeder kann das". Aber das stimmt nicht. Das kann eben nicht jeder. Aber jeder kann es versuchen und sich überwinden. Selbst Fotografen, die schon lange Menschen fotografieren, müssen sich jedes Mal aufs Neue überwinden, um auf Fremde zuzugehen. Dass das trotzdem geht, sieht man an den teils hervorragenden Arbeiten bekannter und unbekannter Fotografen.

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