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Die Schärfeebene mit Hilfe des "Tilt"-Effekts verschwenken

2016-04-18 Oft spricht man bei bestimmten Bildbearbeitungstechniken von einem „Tilt“- oder „Miniatur“-Effekt. Dieser ermöglicht es, die normalerweise parallel zum Sensor verlaufende Schärfeebene zu kippen, um so den Schärfebereich scheinbar zu erweitern oder aber zu verringern. Dazu bedarf es spezieller Objektive mit Verstellmechaniken. In diesem Fototipp erklären wir, was es mit dem Tilt-Effekt auf sich hat und wie Sie diesen einsetzen.  (Harm-Diercks Gronewold, Benjamin Kirchheim)

  • Bild Nikon 45 mm Tilt Shift Objektiv - Tilted links. [Foto: MediaNord]

    Nikon 45 mm Tilt Shift Objektiv - Tilted links. [Foto: MediaNord]

  • Bild Nikon 45 mm Tilt Shift Objektiv - Tilted Mitte. [Foto: MediaNord]

    Nikon 45 mm Tilt Shift Objektiv - Tilted Mitte. [Foto: MediaNord]

Die Entdeckung des „Tilt“-Effektes ist Theodor Scheimpflug zu verdanken (siehe weiterführende Links). Herr Scheimpflug hat sich zeitlebens für die Erstellung von Landkarten mithilfe von Fotografien interessiert. Da es noch keine Flugzeuge gab, machte er die Aufnahmen aus Ballons heraus. Dort ließ es sich manchmal nicht vermeiden, die Kamera anzuwinkeln. Die daraus resultierende Unschärfe in vorderen oder hinteren Bildteil machte die Erstellung von Landkarten schwierig. Theodor Scheimpflug fand durch Versuche heraus, dass wenn er die Parallele der Bild-, Objektiv- und die Schärfenebene verändert, in dem er das Objektiv kippt, er das Bild vollständig scharf abbilden kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Bild-, die Objektiv- und die Schärfenebene sich in einer Geraden schneiden (siehe weiterführende Links). Mitnichten wollte Theodor Scheimpflug also einen coolen Effekt für seine Bilder erzeugen, sondern vielmehr seine Bilder scharf haben, auch wenn die Kamera angewinkelt steht. Wurden zunächst Balgen und Fachkameras für diese Technik eingesetzt, wurde sie irgendwann auch für Spiegelreflexkameras interessant und der Name „Tilt“ wurde gebräuchlich, da das Objektiv verschwenkt wurde.

Der klassische Einsatz ist die Architekturfotografie, wenn nicht parallel zum Fotografen verlaufende Objekte scharf abgebildet werden sollen, der Standpunkt aber festgelegt ist. So können zum Beispiel hohe Gebäude scharf abgebildet werden, auch wenn der Fotograf relativ dicht davor steht. Dazu muss das Objektiv lediglich in die richtige Richtung verschoben werden. In der Tabletop-Fotografie zum Beispiel lassen sich so schräg angeordnete Objekte scharf abbilden, und in der Porträtfotografie lassen sich Gruppen mit mehr Tiefe abbilden.

  • Bild Ohne Schwenkmöglichkeit hätte der Fotograf nur die Möglichkeit, die Blende weiter zu schließen und so den Schärfenbereich auf beide Hauptobjekte auszudehnen. [Foto: MediaNord]

    Ohne Schwenkmöglichkeit hätte der Fotograf nur die Möglichkeit, die Blende weiter zu schließen und so den Schärfenbereich auf beide Hauptobjekte auszudehnen. [Foto: MediaNord]

  • Bild Mit richtig eingestelltem Schwenkwinkel werden trotz offener Blende beide Hauptobjekte scharf abgebildet. [Foto: MediaNord]

    Mit richtig eingestelltem Schwenkwinkel werden trotz offener Blende beide Hauptobjekte scharf abgebildet. [Foto: MediaNord]

Um den Tilt-Winkel perfekt auf ein Motiv anzupassen, empfehlen wir die Verwendung der Live-View-Funktion, die es wesentlich einfacher macht, den richtigen Winkel zu finden. Zunächst kommt die Kamera auf ein Stativ, dann wird der Bildauschnitt eingestellt. Danach aktivieren Sie das Live-View und fokussieren einen markanten Punkt im vorderen Drittel des Bildes an. Gerne können Sie hier auch die Fokuslupe oder das Fokuspeaking benutzen. Sobald Sie den Punkt scharf eingestellt haben, verschieben Sie die Fokuslupe in den weiter entfernten Teil des Motivs und suchen sich auch hier einen markanten Punkt. Anstelle mit dem Fokusring zu fokussieren, stellen Sie nun mit der Verschwenkschraube diesen Punkt scharf. Vergewissern Sie sich aber bitte vorher, dass die Fixierschraube für den Schwenkmechanismus geöffnet ist. Haben Sie den Fokuspunkt gefunden, dann gehen Sie mit der Fokuslupe zurück zum ersten Punkt und stellen dort die Schärfe per Fokusring wieder richtig ein. Danach geht es wieder zum zweiten Punkt und dort wird die Schärfe wieder mit der Verschwenkschraube angepasst.

Diesen Vorgang wiederholen Sie so lange, bis beide Objekte scharf sind. Ist es nicht möglich beide scharf abzubilden, dann liegt der Winkel beider Objekte zueinander außerhalb des Schwenkbereichs. Dann müssen Sie den Winkel der Kamera zu den beiden Objekten verringern. Bedenken Sie bitte, dass der Schärfenbereich natürlich mit offener Blende angezeigt wird. Schließen Sie die Blende, dann wird sich der Schärfenbereich anhand der eingestellten Schärfenebene ausdehnen!

Möchten Sie die Scheimpflugsche Regel als Effekt einsetzen, dann sollten Sie ebenfalls zunächst das Hauptobjekt fokussieren. Danach verschwenken Sie nach Gutdünken den Bereich und fokussieren gegebenenfalls nach. Soll der Tilt-Effekt dazu benutzt werden, die Schärfe im Bild zu verringern, so lässt sich dies alternativ auch per Bildbearbeitung erreichen (siehe weiterführende Links). Bekannt ist dieser Effekt als "Miniatureffekt" und wurd einst mit der Telekom-Werbung hierzulande sehr populär und findet sich inzwischen sogar als Effekt in vielen Kameras eingebaut.

  • Bild Mit offener Blende und ohne Möglichkeit zu "tilten" ist der Schärfenbereich begrenzt. [Foto: MediaNord]

    Mit offener Blende und ohne Möglichkeit zu "tilten" ist der Schärfenbereich begrenzt. [Foto: MediaNord]

  • Bild Mit einem richtig eingestellten Schwenkwinkel lässt sich Architektur auch mit offener Blende festhalten. [Foto: MediaNord]

    Mit einem richtig eingestellten Schwenkwinkel lässt sich Architektur auch mit offener Blende festhalten. [Foto: MediaNord]

Im nächsten Fototipp, der in zwei Wochen erscheint, zeigen wir Ihnen, was es mit dem „Shiften“ in einem Tilt/Shift-Objektiv auf sich hat.

 

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Benjamin Kirchheim

Benjamin Kirchheim, 46, schloss 2007 sein Informatikstudium an der Uni Hamburg mit dem Baccalaureus Scientiae ab. Seit 1998 war er journalistisch für verschiedene Atari-Computermagazine tätig und beschäftigt sich seit 2000 mit der Digitalfotografie. Ab 2004 schrieb er zunächst als freier Autor und Tester für digitalkamera.de, bevor er 2007 als fest angestellter Redakteur in die Lübecker Redaktion kam. Seine Schwerpunkte sind die Kameratests, News zu Kameras und Fototipps.

 

Harm-Diercks Gronewold

Harm-Diercks Gronewold, 52, ist gelernter Fotokaufmann und hat etliche Jahre im Fotofachhandel gearbeitet, bevor er 2005 in die digitalkamera.de-Redaktion kam. Seine Schwerpunkte sind die Produktdatenbanken, Bildbearbeitung, Fototipps sowie die Berichterstattung über Software und Zubehör. Er ist es auch, der meistens vor der Kamera in unseren Videos zu sehen ist und die Produkte vorführt.